Cover
Titel
Die Krankengeschichten der Epidemienbücher des Corpus Hippocraticum. Medizinhistorische Bedeutung und Möglichkeiten der retrospektiven Diagnose


Autor(en)
Graumann, Lutz Alexander
Erschienen
Aachen 2000: Shaker Verlag
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Charlotte Schubert, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Die hier zu besprechende, medizinhistorische Dissertation dokumentiert am Beispiel einer klassischen Textgruppe zu historischen Krankengeschichten, den im 5./4. Jahrhundert v. Chr. abgefassten, sog. Epidemienbüchern des Corpus Hippocraticum, das in den letzten Jahren diskutierte Konzept der "retrospektiven Diagnose", wobei sowohl die Grundlagen der Diskussion als auch eine Auswertung der Epidemienbücher nach diesem Konzept präsentiert werden. Neben der heutigen allgemeinen Definition von Diagnose als bloßer Erkennung und Benennung der Krankheiten 1, ist Diagnose auch als Bezugssystem zu verstehen (S. 63), das ein Krankheitskonzept mit davon abhängigen Krankheitsnamen bedingt, die in Abhängigkeit zu zeitbedingtem Wissensstand und entsprechender Wissensverarbeitung stehen. Damit wird die Diagnose auch zu einem Mittel der Kommunikation, einem zweckgerichteten Handlungsbegriff, der eine Singuläraussage innerhalb eines bestimmten Erkenntnissystems trifft.

Diese Zeitbedingtheit des modernen Diagnosebegriffes ist der antiken Diagnosevorstellung gegenüberzustellen, die als ein der Prognose untergeordnetes Feststellen von individuell bedingten Zeichen im Sinne eines heutigen Syndroms, nicht aber auf das Festellen einer Krankheit an sich ausgerichtet war (S. 65). Hauptzweck war dabei im Hinblick auf die Texte des Corpus Hippocraticum eine Prognose, die als Erfolgsrichtlinie und gegebenenfalls Erfolgsgarant vor allem psychologisch-sozialen Nutzen erbringen sollte. Eine "retrospektive Diagnose" (auch als Retrodiagnose oder Paläodiagnose zu bezeichnen) würde in diesem Sinn ermöglichen, eine historische Krankheit mit einem modernen Krankheitsnamen zu identifizieren (S. 67). Dazu ist vor einigen Jahren von M. D. Grmek eine ausgefeilte Methodologie vorgelegt worden2, die die Problematik von zeitbedingten Terminologien, Krankheitskonzepten, medizinischen Fachtermini und mangelnder Spezifik in antiken Texten berücksichtigt, gleichwohl jedoch davon ausgeht, dass aus der Beschreibung von Krankheitssymptomen heraus eine Identifikation mit einem modernen Krankheitsnamen möglich sei.

Demgegenüber zog vor allem K. H. Leven 3 die Zulässigkeit eines solchen Vorgehens grundsätzlich in Zweifel. Die zeitspezifischen, an den sozio-kulturellen Kontext gebundenen Inhalte einer jeden Krankheitsauffassung ließen ein systematisches und methodisches Vorgehen im Sinne einer "retrospektiven Diagnose" nicht zu. Es sei daher eine Beschränkung auf rein medizinhistorische Erforschung von Verhaltensmustern anzuraten.

Der Verfasser versucht nun, ohne wirkliche Entkräftung der methodisch bedenkenswerten Argumente von Leven, am Beispiel der Epidemienbücher eine Auswertung auf der Basis der "retrospektiven Diagnose". Er präsentiert seine Ergebnisse in Form tabellarischer Zusammenstellungen. In Tabelle 1 'Die Krankengeschichten in Epid. I und III' werden nach Büchern der Epidemien die Fälle mit Namen, Angaben zur Person, zu Ort und Region und gegebenenfalls eingetretenem Todesfall aufgelistet, in Tabelle 2 eine Konkordanz zwischen den Aphorismen und den Epidemien nach Editionen und in Tabelle 3 a nach Patientennamen eine Referenztabelle gegeben. In Tabelle 3 b folgt eine Diagnosetabelle mit der Angabe von Symptomen, "retrospektiver Diagnose" sowie der modernen Fundstelle dieser Diagnose.

Die Darstellung ist durchaus informativ, wenngleich sowohl eine kritische Würdigung der Konsequenzen, die sich aus der Kontroverse um die "retrospektive Diagnose" ergeben, als auch - und dies wiegt eigentlich schwerer - eine kritische Auseinandersetzung mit den modernen Krankheitsklassifikationen fehlen, die in Tabelle 3 b aufgeführt werden und deren Zusammenstellung das Kernstück der Arbeit bilden. Einige biografische Notizen zu Hugo Kühlewein, dem Editor der zweibändigen Teubner-Ausgabe der hippokratischen Schriften sind - ohne einen erklärenden Kontext - im Anhang beigefügt. Dies alles verleiht der Arbeit eher den Charakter einer Stoffsammlung als den einer wissenschaftshistorischen Dissertation.

Anmerkungen:
1 Pschyrembel, Willibald: Klinisches Wörterbuch, 256. Auflage. Neu bearbeitete Auflage mit 2052 Abbildungen und 250 Tabellen bearbeitet von der Wörterbuch-Redaktion des Verlages unter der Leitung von H. Hildebrandt, Berlin 1998, S. 350.
2 Grmek, M. D.: Diseases in the ancient Greek world, Baltimore 1998, S. 6f.
3 Leven, K. H.: Krankheiten - historische Deutung versus retrospektive Diagnose, in: Paul, N.; Schlich, T. (Hgg.): Medizingeschichte. Aufgaben, Probleme, Perspektiven, Frankfurt a.M. 1998, S. 153-185, hier S. 153.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension